Ausgabe 2/2024, April

Aus dem WIdO

Heilmittelbericht 2023/2024: Heilmittel für Pflegebedürftige

Auf knapp drei Prozent aller AOK-Versicherten entfallen 31 Prozent aller Heilmittelausgaben. Pflegebedürftige ab 65 Jahren werden besonders häufig mit Physiotherapie, Podologie und Ergotherapie versorgt. Der aktuelle Heilmittelbericht stellt die Versorgung erstmals auch kleinräumig dar.

Mit zunehmendem Alter haben Menschen mit typischen Alterserkrankungen, kognitiven und körperlichen Einschränkungen zu kämpfen. Rund 31 Prozent der AOK-Ver­sicherten ab 65 Jahren waren 2022 pflegebedürftig. Je höher der Pflegegrad, desto mehr Heilmittel wurden ihnen verordnet.

Mit einem Anteil von knapp 18 Prozent bildeten Patienten mit Diabetes mellitus die größte Gruppe der pflegebedürftigen Heilmittelpatienten. Rund 143.000 von ihnen erhielten die von den Fachgesellschaften empfohlene regelmäßige Kontrolle der Füße durch eine podologische Fachkraft zur Vermeidung eines diabeti­schen Fußsyndroms. Das sind etwa 235 je 1.000 Diabetiker über 65 Jahre. Etwa ebenso viele erhielten eine physiotherapeutische Behandlung gegen Symptome, die das Nerven- und das Muskel-Skelett-System betreffen, überwiegend aufgrund von „Störungen des Ganges und der Mobilität“. An dritter Stelle stehen die Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens. Hier machen Therapien zur Schmerzbekämpfung einen großen Teil aus. Insgesamt hat mehr als jeder dritte Pflegebedürftige ab 65 Jahren eine physiotherapeutische Maßnahme verordnet bekommen.

Der Heilmittelbericht bildet die Pflegebedürftigkeit sowie die Heilmittelver­sorgung nach Versorgungsform ab und stellt die regionalen Variationen der Versorgung in den 96 Raumordnungsregionen Deutschlands dar. Dabei zeigt sich, dass in einem zusammenhängenden großen Gebiet von Sachsen, Thüringen sowie dem Süden von Sachsen-Anhalt und Brandenburg überdurchschnittlich häufig Heilmitteltherapien verordnet werden. Gleiches gilt für die Heilmittelversorgung von Pfle­geheimbewohnenden in diesem Gebiet.

Die Versorgung von pflegebedürftigen Diabetikern mit Podologie zeigt eine überdurchschnittliche Behandlungsrate in zahlreichen Regionen im Osten, Westen und in der Mitte Deutschlands. Im Norden sowie in den meisten Regionen von Ba­den-Württemberg und im Süden von Bayern liegt diese hingegen unter dem Durchschnitt.

Geschlechterstudie "Gendervasc": Prävention nach Herzinfarkt

Frauen erhalten nach einem Herzinfarkt seltener die in Leitlinien empfohlene medikamentöse Sekundärprophylaxe. Dies zeigt die vom Gemeinsamen Bundesausschuss geförderte GenderVasc-Studie des Universitätsklinikums Münster und des WIdO.

Nur zwei von drei Frauen wird nach einer Krankenhausbehandlung wegen eines akuten Herzinfarkts, genauer: eines ST-Streckenhebungs-Infarkts (STEMI), die Kombinationstherapie von Statinen, Betablockern, ACE-Hemmern/Angiotensin-II-Rezeptorblockern und Antikoagulanzien verordnet. Bei Männern lag der Grad der Umsetzung dieser Leitlinienempfehlung bei 70 Prozent und damit leicht, aber signifikant höher. Patienten mit Kombinationstherapie hatten dabei einen erheblichen Überlebensvorteil. Die Hazard Ratio mit Kombinationstherapie lag für Frauen bei 0,52 (95%-Konfidenzintervall 0,50– 0,55) und für Männer bei 0,48 (0,47–0,50). Für jede einzelne der vier Wirkstoffklassen zeigten sich hohe Verordnungsanteile zwischen 80 und 90 Prozent ohne signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Die Studiengruppe wertete die poststationäre Pharmakotherapie von rund 175.000 AOK-Versicherten mit einem STEMI-Krankenhausaufenthalt in den Jahren 2010 bis 2017 aus. In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zu den Studienergebnissen wird vermutet, dass die behandelnden Ärztinnen und Ärzte bei Frauen zurückhaltender verordnen könnten, da diese bei Vorstellung wegen thorakaler Beschwerden im Schnitt älter sind und sich häufiger multimorbid präsentieren.

Die GenderVasc-Studie untersuchte die Versorgungssituation von Patientinnen und Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen in Deutschland. Neben dem akuten Myokardinfarkt wurde die Versorgung der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) und des Schlaganfalls hinsichtlich Risikofaktoren, Leitlinienadhärenz der Therapie und geschlechtsspezifischer Unterschiede analysiert. Grundlage der quer- und längsschnittlichen Beobachtungsstudie waren Routinedaten der AOK und die Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamtes.

Der Beschluss des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss gemäß § 92b Absatz 3 SGB V zum abgeschlossenen Projekt GenderVasc (01VSF18051) ist online verfügbar.

Die WIdO-Themen zum Herunterladen

Analysen – Schwerpunkt: Prävention

Institutionenwandel in der Präventionspolitik

Thomas Gerlinger, Universität Bielefeld

Das Institutionensystem der deutschen Präventionspolitik ist traditionell stark fragmentiert. Wichtige Gründe dafür sind die Existenz eines föderalen Mehrebenensystems sowie das Nebeneinander von Staat und Sozialversicherung auf diesem Handlungsfeld. In den Gründerjahren der Bundesrepublik hat der Öffentliche Gesundheitsdienst gegenüber der individualmedizinischen Prävention durch die niedergelassene Ärzteschaft an Bedeutung verloren. Diese Merkmale des Institutionensystems haben sich bis heute erhalten. Allerdings ist, beginnend mit den 1980er-Jahren, die Aufmerksamkeit für Prävention, verstanden als soziale Prävention, erheblich gestiegen. Insbesondere seit den 2000er-Jahren lässt sich eine deutliche Zunahme von Aktivitäten verzeichnen. Zudem haben sich neue Handlungsfelder, Institutionen und Akteure etabliert. Der damit verbundenen Fragmentierung des Institutionensystems versucht der Gesetzgeber durch die Formulierung von Koordinations-und Kooperationspflichten zu begegnen.

Wege aus der BGF-Wirkungskrise

Holger Pfaff, Mareike Pfaff und Kristina Schubin, Universität zu Köln

Eine der zentralen Zukunftsaufgaben von Betrieben ist die Umsetzung wirksamer und nachhaltiger Prävention und Gesundheitsförderung. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch mitunter so weit auseinander, dass man von einer Präventionskrise im Sinne einer Wirkungs­krise sprechen kann. Oft werden Maßnahmen implementiert, deren Wirksamkeit nicht belegt oder unbekannt ist oder die bei Weitem nicht alle Beschäftigten und zudem oft die falschen erreichen. Dies mindert die Gesamtwirkung der Prävention erheblich. Als Weg aus der Wirkungskrise wird ein Drei-Ziele-Rahmen der Prävention (kurz: Triple-Aim-Konzept) vorgeschlagen, der die Ziele Evidenzbasierung, Nachhaltigkeit und Populationsgesundheit umfasst. Der Artikel plädiert für einen Paradigmenwechsel hin zu einem systemischen Präventionsansatz, der reichweitenstarke, belegt wirksame und nachhaltige Individual-und Kollektivmaßnahmen integriert.

Ein neues Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit - mehr als eine Frage des Namens

Raimund Geene, Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialwissenschaften

Stärkung von Gesundheitskommunikation, Öffentlichem Gesundheitsdienst und Public Health sind die zentralen Ziele eines neu einzu­richtenden Bundesinstituts, das im Koalitionsver­trag vereinbart wurde. Der erste Referentenent­wurf liegt vor und benennt zentrale Aufgaben. Es fehlen bislang jedoch Konzepte und Instrumente, um die ambitionierten Ansprüche umzusetzen. Zudem irritieren die Vorschläge für Namensge­bung und Strukturaufbau, insbesondere in der Unterscheidung zwischen übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten wegen der überraschenden Perspektive, Letztere aus der Zuständigkeit des Robert Koch-Instituts heraus­zulösen. Es besteht noch erheblicher Klärungs-und Nachbesserungsbedarf.

Finanzausgleich in der Pflegeversicherung weiter sinnvoll

Dietmar Haun, Wissenschaftliches Institut der AOK, Berlin

Ein Finanzausgleich im dualen System der gesetzlichen Pflegeversicherung aufgrund ungleicher Risiken und Kosten der Pflegeversicherten steht seit Jahren zur Debatte. Nach Analysen der privaten Krankenversicherung (PKV) wäre ein Finanzausgleich oder eine Bürgerversicherung aufgrund der fortschreitenden Alterung des Versichertenbestandes der privaten Pflegeversicherung mittlerweile finanziell nachteilig für die soziale Pflegeversicherung. Die empirischen Analysen des Beitrags bestätigen einen höheren Versichertenanteil der vulnerablen Altersgruppen im privaten Sektor. Dieser hat allerdings keine Auswirkungen auf die ungleichen Ausgaben- und Risikoprofile. Wesentliche Ursache hierfür ist der Selektionsprozess beim Zugang zur PKV. Ein Finanzausgleich ist daher weiterhin empirisch begründet.